Nichtwissen aushalten: Einige Grundprinzipien gelingender Veränderungsarbeit in Familienunternehmen.
Stellen Sie sich eine Unternehmerfamilie vor, die vor nicht langer Zeit die Übergabe des Unternehmens an die dritte Generation vollzogen hat. Dieser Generationswechsel wurde ausführlich vorbereitet und wird auf mindestens zwei Ebenen auch nach der Übergabe intensive Veränderungsarbeit notwendig machen.
Die erste Ebene, die Arbeit an und in der Familie, wird sich unter anderem damit befassen, neu entstehende Muster im System Familie zu erkennen und zu interpretieren, während bewährte Muster unter Umständen an Relevanz verlieren.
Die zweite Ebene, sie wird im Zentrum dieses Beitrags stehen, ist die Arbeit am System Organisation. Generationswechsel sind häufig Anlass für spürbare Musterwechsel und es stellen sich beinahe zwangsläufig die Fragen nach Best Practices und Benchmarks aus vergleichbaren Konstellationen.
TUN
Veränderungsinitiativen hinterfragen.
Veränderungsprozesse sind herausforderungsvoll. Nicht nur, weil Veränderung an sich schon anstrengend ist, sondern auch, weil die Fülle an Frameworks und Methoden beinahe zwangsläufig den Eindruck vermittelt, man könne sich nur falsch entscheiden. Doch, der Reihe nach: Rahmenwerke sind toll. Sie geben Orientierung und eine Idee davon, wie die Dinge sein könnten, würden alle Grundvoraussetzungen stimmen und man sich bedingungslos an ihnen orientieren.
Nur es gibt zwei Haken: 1. Veränderung geschieht niemals unter Laborbedingungen – was eben im Konzern noch funktioniert hat, kann im nächsten Moment im Familienunternehmen gnadenlos scheitern. 2. Eine Orientierung an der richtigen Umsetzung von Rahmenwerken oder Regeln macht zunächst die Einhaltung dieser zur Referenz des Erfolgs, nicht aber den Fortschritt in der Problemlösung.
Die gute und die schlechte Nachricht lautet: Veränderung ist ein Prozess und kein Projekt. Es wäre töricht, hier erneut mit einem garantiert wasserdichten Regelwerk aufzuwarten. Systemiker:innen arbeiten gerne mit Denkfiguren, Geboten oder Prinzipien. Sie funktionieren als Erklärmodelle oder Perspektivangebote. Und genau so sind die nachfolgenden – für mich aus der Sicht eines Organisationsberaters momentan spannendsten – Prinzipien zu verstehen: als Angebote, bestehende Veränderungsinitiativen zu hinterfragen, zu bereichern, oder ihnen neuen Wind zu verleihen.
1. Das Bestehende Wertschätzen
Nur weil man sich in einem Veränderungsprozess befindet, bedeutet es nicht, dass alles verändert werden muss. Was gehört zum Kern der bisherigen Erfolgsgeschichte? Wie können diese Elemente mit Blick in die Zukunft gebührend wertgeschätzt werden?
Der Blick auf die Historie wird Nachfolger:innen in Familienunternehmen in aller Regel in die Wiege gelegt, da es viel häufiger um das Fortschreiben einer Erfolgsgeschichte als um die Qualifikation für den nächsten Karriereschritt geht. Das bedeutet auch, dass das Erkunden bewahrenswerter Elemente noch mehr Fingerspitzengefühl erfordert: es geht insbesondere darum, häufig wenig greifbare, informelle Gepflogenheiten zu erspüren und deren Wert für das Unternehmen zu bemessen. Gleichzeitig ist es hier wichtig, auf die Erfahrungsfalle hinzuweisen: sich allein darauf zu berufen, wie Dinge in der Vergangenheit gemacht wurden, verstellt den Blick auf hilfreiche oder notwendige Anpassungen.1
2: Komplexität willkommen heißen
Komplexität, also mangelnde Beobachtbarkeit klarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, ist eine unumstößliche Tatsache in Organisationen. Das anzuerkennen, wird jede Generation weiter bringen, als der Versuch, Dinge reflexartig zu vereinfachen. Komplexität wird handhabbar, wenn a) sie benannt und anerkannt wird und man sich b) darum bemüht, die durch sie provozierten organisationalen Muster zu identifizieren und einzuordnen.
Es wird kaum jemanden überraschen, dass Familienunternehmen oft auf Komplexitätsreduktion angelegt sind – und zwar von beiden Seiten: in undurchschaubaren Situationen wird vom Patriarchen erwartet, dass er die Richtung vorgibt. Gleichzeitig wird die Familie darauf bestehen, in existenzbedrohenden Gefahrensituationen in wichtige Entscheidungen involviert zu sein.2 In Veränderungsszenarien kann diese Form der Unsicherheitsabsorption jedoch wichtige Signale aus der Umwelt überschreiben oder ausblenden. Eine Frage kann also sein: Wie stellen wir sicher, dass auch Signale, die die Komplexität bestimmter Entscheidungsprozesse zunächst erhöhen werden, in die Kommunikation gelangen?
3: Selbstorganisation nutzen, Eigenverantwortung fördern
Punktuelle, aufeinander abgestimmte Interventionen externer Prozessbegleiter:innen stärken die Eigenverantwortung der beauftragenden Organisation und reduzieren die Abhängigkeit vom Beratungssystem. Beim Einfordern von (mehr) Selbstorganisation sollte unbedingt Zeit in die gemeinsame Erwartungsklärung investiert werden, um sich nicht gegenseitig zu enttäuschen oder zu überfordern. Denn: Systeme sind, egal wie hierarchisch sie organisiert sein mögen, im Rahmen ihrer Entscheidungsprämissen immer selbst organisiert. Leider werden allenthalben Formen und Bilder von Selbstorganisation propagiert (z.B. Chefs sollten nur noch coachen), die mit organisationaler Realität schwer vereinbar sind.
4: Arbeit mit Unterscheidungen
Welche Impulse aus der Umwelt werden wahrgenommen, welche nicht? Wie werden diese Impulse sortiert und bewertet? Wie definiert ein Familienunternehmen seine relevante Umwelt? Wie beschreibt die Nachfolgegeneration die relevante Umwelt im Unterschied zur Vorgängerin? Was bedeutet das für den Blick in die Zukunft?
Die Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und die Unterschiede zu beschreiben, ist ein wahres Pfund in der Veränderungsarbeit. Denn nur die Unterscheidung erlaubt es, Relevantes von Interessantem zu trennen und Interventionen zu konzipieren.
5: Prozessorientierung
Abschließen möchte ich hier mit dem Prinzip Prozessorientierung. Sie braucht Prozesskompetenz und diese schließt den Umgang mit Freiheitsgraden und Kontingenz – also Komplexität – unbedingt mit ein. Prozessorientierung erlaubt das Abweichen von ursprünglich skizzierten Plänen ohne die gesteckten Ziele aus dem Auge zu verlieren. Prozessorientierung gibt die Sicherheit, dass es einen nächsten Schritt geben wird, auch wenn noch nicht klar ist, welcher das ist.
Organisationsdesigns mit festen Regeln und Methoden als Ziele von Veränderungsinitiativen geben für einen kurzen Moment Halt in Zeiten großer Unsicherheit. Das Blickfeld verengt sich und es wird für einen Moment klarer, wie die Umsetzungsenergie kanalisiert werden sollte. Leider erzeugen diese Schablonen bereits in der Kommunikation Widerstand und Energieverluste, die im weiteren Verlauf schwer zu verkraften sind. Die Arbeit entlang von Prinzipien lässt Raum für Beobachtung als auch Interpretation bestehender Bedingungen und Gestaltungsfreiheit für den Weg nach vorn. Für Familienunternehmer:innen bedeutet die Arbeit entlang solcher Prinzipien auch, Kontrolle und gefühlte Sicherheit aus der Hand zu geben.
SEIN
Nichtwissen kultivieren.
Nichtwissen zu ertragen, ja sogar zu kultivieren, ist eine kontraintuitive Erwartung und steht im krassen Gegensatz zu dem Bild das normalerweise von der Spitze eigentümer:innengeführter Unternehmen gezeichnet wird – sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstzuschreibung. Gleichzeitig ist in wachstumsorientierten Familienunternehmen die Zunahme von Komplexität – seien es bspw. Kund:innenwünsche und -beziehungen, die Mitarbeitendenstruktur oder zu bewertende Technologien – die Unbeherrschbarkeit all dieser Dimensionen die unumstößliche Realität. Je früher diese vermeintliche Fehlbarkeit in das interne und externe Bild der Unternehmer:innenpersönlichkeit integriert wird, desto früher können Strukturen etabliert werden, die Komplexität und Irritation in die Kommunikation bringen, um hieraus zu lernen.
ENKELFÄHIGKEIT
Komplexität vergrößern.
Nehmen wir nun also an, die oben erwähnte Nachfolgegeneration hätte das Nichtwissen in einer Art und Intensität kultiviert, wie es für den Fortbestand des Familienunternehmens hilfreich war – woran würde die wiederum nachfolgende Generation das erkennen?
Ein guter Indikator für den Umgang mit Nichtwissen ist die Strukturierung der Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft: Ein Familienunternehmen, das bei der Erarbeitung und Formulierung der Strategie den Kreis der Beteiligten und damit auch die Komplexität vergrößert3, hat große Chancen darauf, relevante und für eine einzelne Person trotzdem leicht zu übersehende Signale aus der Umwelt in das eigene Handeln zu integrieren.
Eine weitere Möglichkeit, bestehende Komplexitätsreduktionsmuster zu irritieren, ist das strukturierte Hinterfragen von Entscheidungsprozessen: Welche Unterschiede werden sichtbar, wenn die Organisation von der Stabilität in die Instabilität wechselt? Wie sieht es aus, wenn sie aus der Unsicherheit zurück in die Sicherheit gelangt?
Eine dritte Möglichkeit zur Zukunftssicherung ist die Kultivierung und das strukturelle Etablieren der Selbstbeobachtung. Ein regelmäßiger Soll-Ist Abgleich4 ist nicht nur ein essenzieller Bestandteil von (Selbst-)Führung. Diese Form der Selbstbeobachtung kann ohne weiteres auf unterschiedliche Ebenen gehoben und dort in strukturierter Form (Bsp: Wann und wie oft findet sie statt? Wer nimmt Teil? Welche Fragen werden gestellt?) werden.
"Welchen Grund kann es geben, das Problem zu behalten?“ Diese Frage eröffnet eine Welt von Antworten, die mit klassischen Beratungsmodellen nicht zu finden sind. Seit mehr als 10 Jahren ist Karl Bredemeyer in Veränderungsprozessen verschiedenster Branchen unterwegs – von der Verwaltung des kommunalen Schulwesens über das Berliner Startup hin zum schwäbischen Maschinenbauunternehmen. Angetrieben von Neugier und der Vorfreude auf den Moment, wenn die Kundinnen und Kunden ihre eigenen Lösungen finden und umsetzen, legt er besonderen Wert auf Fragen, die die eigenen Ressourcen aktivieren und gewohnte Denkmuster durchbrechen. FUTUN kooperiert mit Karl Bredemeyer in familienstrategischen Prozessen, bei denen auch organisationale Veränderungsprozesse im Vordergrund stehen.
1 siehe u.a. 66 Gebote systemischen Denkens und Handelns, Groth 2022.
2 siehe u.a. Mentale Modelle von Familienunternehmen, Rüsen/v. Schlippe/Groth, 2019.
3 siehe u.a. Systemische Strategieentwicklung, Wimmer/Nagel 2008; Führung und Organisation in Familienunternehmen, Wimmer 2022.
4 siehe u.a. die Führungsschleife in Wirksam führen mit Systemtheorie, Groth/Richter 2023.
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