Räume, in denen das Denken die Richtung wechseln kann: Fünf Kriterien für ko-kreative Architekturen.
Räume wirken, auf uns als Einzelne und auf die Gemeinschaft. Das ist so selbstverständlich, dass es kaum der Erörterung lohnt. Die Reflexion aber über die Räume, in denen wir Transformationen wagen wollen, kommt oft zu kurz. Zeit für einen kleinen architekturpsychologischen und gestaltungspraktischen Seitenblick.1
TUN
Der Raum entscheidet mit, ob wir gemeinsam aufbrechen können.
Sie kennen sicher den vielzitierten Sinnspruch des Schriftstellers und Künstlers Francis Picabia: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“2. Wie aber sieht ein Raum aus, in dem das Denken die Richtung wechseln kann? Zudem das kollektive Denken, etwa einer Unternehmerfamilie? Da Raumwirkung nur bedingt objektiven Kriterien unterliegt, schauen wir auf die langjährige Praxis eines strategiefokussierten Gestaltungs- und Architekturbüros, dessen tägliche Aufgabe es ist, Räume für die eigene Kreativität zu öffnen – sowie diese für andere zu bauen.
1. Grenzen auflösen: Think outside the Schachtel
Bauten, die eine bloße Ansammlung von Schachteln sind, empfinden wir – die die funktionsgetriebene Nachkriegsmoderne lang hinter sich gelassen haben – schnell als ungastlich und blockierend. Das war schon Architekt Frank Lloyd Wright klar, der sich 1963 für eine „destruction of the box“ und fließende Räume stark machte, die vor Etagenverbindungen ebensowenig Halt machen wie vor der Landschaft draußen. Räumliche Offenheit macht uns auch offen für neue Begegnungen und neue Ideen – unsre eigenen und die der anderen.
2. Abwechslung und Aneignung
Zu viel Offenheit allerdings lässt uns nicht ankommen. Ich muss meinen Platz im Raum finden und ihn nutzen können, in ganz verschiedenen Situationen und Stimmungen. Beim Zuhören wie beim Diskutieren, beim versunkenen Denken wie beim wilden Brainstormen. Monofunktionale Veranstaltungs- oder Seminarräume, in denen man nur sitzen und in eine Richtung schauen kann, teilen mir mit, dass auch ich nur in einer Funktion erwünscht bin. Stattdesssen legen wir Räume gern multifunktional an und bereichern sie durch Möbel, die Menschen animieren, sich im Raum zu bewegen und ihn durch ihre eigenen Aktionen anzueigenen. Denn die Angreifbarkeit, Berührbarkeit, Gestaltbarkeit des Raums hilft mir, mich als aktiven Teil der in ihm stattfindenden Prozesse zu empfinden, mich mit meinen kreativen Fähigkeiten willkommen zu fühlen. Genau das brauchen Räume, in denen wir gemeinsam zu ko-kreativen Prozessen und zur Formulierung neuer Visionen aufbrechen. Von New Work würden manche sprechen – wenn wir Arbeitswelten gestalten. Dabei können solche Raumkonzepte auch helfen, gerade den Ort der Arbeit, egal in welcher Branche, wieder als Bereich von schöpferischer Tätigkeit zu verstehen und zu entdecken.
SEIN
Strategieprozesse gelingen nur in Räumen, in denen wir ankommen.
Bevor wir große Pläne an die Wände werfen, vergessen wir nicht, dass ein Raum immer ein temporäres Zuhause bildet. Spüren wir die Gastgeberschaft unseres Raums? Hat er eine authentische Identität, die uns für die eigene Authentizität inspiriert?
3. Einladen und ankommen lassen
Jeder Raum spricht zu uns. Die Frage ist, was lassen wir ihn sagen. Manche Räume überfluten uns, sie quasseln uns zu. Andere gähnen uns an und haben eigentlich gar nichts zu sagen. Räume, denen wir uns gerne anvertrauen, laden uns ein, nehmen uns an der Hand, und zwar schon an der Türklinke. Ich spüre: Es ist nicht egal, dass ich hier gerade reinkomme. Vielleicht führt mich der Raum zunächst zu einem schönen Ausblick. Ja, bleib ruhig erst einmal am Fenster stehen. Komm an. Orientiere dich. Mach dich vertraut.
4. Authentizität
Eine Welt aus Dekortapeten und Furnier, Verkleidungen und abgehängten Decken erzieht zur Täuschung. Nur in Räumen, denen wir vertrauen, können vertrauensvolle Beziehungen – seien sie persönlicher oder geschäftlicher Natur – und ehrliche Dialoge über Herkunft und Zukunft entstehen. Darum gestalten wir gern mit authentischen, natürlichen, sinnlichen Materialien. Und man kann durchaus hochmodern bauen und Räume entstehen lassen, die selbst von Echtheit reden, auch ohne dass es gleich aussieht wie im Irish Pub nebenan.
5. Sinnlich bis ins Detail
Moment, sinnlich? Was heißt das? Sinnlich gestalten heißt, es gibt nicht nur was aufs Auge: Wir nutzen natürliche Materialien, auch um Tast- und Geruchssinn angenehm zu bedienen. Wir machen uns Gedanken, wie das Schließgeräusch der Tür ist oder wie es klingt, wenn man die Kaffeetasse auf den Tisch setzt. Tue ich das jedes Mal mit größter Vorschicht oder so, als fühlte ich mich zu Hause? Die Möglichkeiten für so eine sinnesreiche Architektur sind unerschöpflich – und die größte Macht liegt in den Details!
ENKELFÄHIGKEIT
Eine gelungene Zukunft wird sich an ihre räumlichen Ursprünge erinnern.
Raumtheoretiker Dieter Münch erklärte einmal, der Raum werde „gelebt, ohne als solcher thematisch oder Gegenstand des Bewußtseins zu sein“3. Wir leben also den Raum, und er kann uns umgekehrt Dinge vorleben. Zum Beispiel mit einer Architektur, die Grenzen überwindet: von innen und außen, von oben und unten, von alt und jung, von Vorgesetzten und Gefolgsleuten. Mit einer Innenarchitektur, die uns Orte zum Aktivieren bietet, genauso wie Orte zum Träumen. Mit Konzepten und Materialien, die für den Wert der natürlichen Ressourcen sensibilisieren.
Geben Sie sich also nicht mit Orten zufrieden, an denen das Herz nicht höherschlagen will. Suchen Sie Orte auf, die gut gestaltet wurden. Schaffen Sie selbst solche Orte. Räume, in denen das Denken Ihrer Organisation, Ihrer Familie die Richtung wechseln kann. Räume, die sich selbst als ein Gespräch verstehen und zu einem Prozess einladen. Idealerweise mündet dieser eines Tages etwa in Worte wie: Weißt du noch, der Raum, in dem wir die entscheidende Idee für unser Leitbild hatten, das unsere Familie ganz neu zusammengeführt hat? – Dann hätten wir als Raumgestaltende zumindest manches richtig gemacht.
atelier 522 ist ein Team von Digital-, Produkt- und Kommunikationsdesignern, Architekten, Innenarchitekten, Ökonomen, Philosophen und Strategen, die gemeinsam Brands, Orte und Objekte gestalten. Erklärtes Ziel ihrer Gestaltung ist es, die Gastgeberqualität der Kunden zu stärken, und das geht am besten über eine Räumlichkeit und Ästhetik der Begegnung. Vom Kolumbarium in Lübeck über den Schweizer Olympia-Pavillon in Paris und das Eatrenalin-Restaurant in Rust bis zum Bahnhof in Basel sprechen mittlerweile hunderte kleine und große Projekte online, offline – und between the line – die betont merk:würdige Sprache des interdisziplinären Büros. Zu Hause ist atelier 522 in Markdorf am Bodensee und in Zürich. FUTUN kooperiert mit atelier 522 in Gestaltungsfragen – so auch in der Entwicklung des FUTUN:Werkraums. Mehr Einblicke finden sich hier.
1 Weiterführende Lektüre: Bollnow, Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, 1963; Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, 1957
2 Picabia, Francis: Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann, Edition Nautilus, 2011
3 Münch, Dieter: Der gelebte Raum als Problem der Semiotik. Überlegungen zur Grundlegung der Semiotik durch die philosophische Anthropologie, in: Signs & Space / Raum & Zeichen. An International Conference on the Semiotics of Space and Culture in Amsterdam, hg. v. E.W.B. Hess-Lüttich, J.E. Müller u. A. van Zoest, Tübingen 1998, S. 30
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